Was der Sturm auf das Kapitol wirklich bedeutet

Der Sturm auf das Kapitol vom 6. Januar ist von vielen als Angriff auf die Demokratie durch Trump-Fans, Populisten und Rechtsextremisten beschrieben worden. Eine genauere Analyse der Geschehnisse und ihrer kulturellen Dimension aber entfällt. Dabei ist diese umso wichtiger, weil die Eindringlinge durch ihre Interaktion mit dem Raum und ihr symbolisches Agieren die amerikanische Demokratie nachhaltig verändert haben.

Das Kapitol ist ein Raum. Aber wie jeder Raum existiert er nicht einfach so. Der französische Philosoph Henri Lefebvre hat dies 1974 in seinem Buch La production de l’espace ausführlich beschrieben und damit die soziologische Raumtheorie begründet. Für Lefebvre ist „der (soziale) Raum ein (soziales) Produkt“.1 Gesellschaften produzieren ihren eigenen Raum, der die Produktionsverhältnisse und sozialen Strukturen reproduziert. Soweit ganz marxistisch. Und zugleich dialektisch, weil die Produktion den Raum wiederum voraussetzt. Lefebvre unterscheidet hierbei drei zentrale ‚Produktionsfaktoren‘: die räumliche Praxis, d.h. die materielle Basis und ihr alltäglicher Gebrauch; Raumrepräsentationen, beispielsweise zeichenförmige Darstellungen des Raums in Form von Karten oder Bebauungsplänen; sowie Repräsentationsräume, also in Narrativen und Symbolen, aber auch dem individuellen Bewusstsein gespeicherte sozial-emotionale Bedeutungen des Raums. Jeder Raum entsteht aus einem Zusammenspiel dieser Faktoren. Besonders komplex wirken sie bei Gebäuden, Denkmälern und Kunstwerken zusammen und produzieren einen Raum, der nicht nur die Verhältnisse, sondern ebenso bestimmte Institutionen symbolisch repräsentiert.

Ein Angriff auf den Raum

Auch das Kapitol zählt als Symbol für Amerika, Macht und Demokratie hierzu. An dessen Produktion haben sich die Eindringlinge des 6. Januar intensiv beteiligt. Ihre Aktionen haben sich unauslöslich in den Raum eingeschrieben. Wer in Zukunft vom Kapitol spricht, der kann vom 6. Januar 2021 nicht schweigen. Und das nicht nur, weil dieses Ereignis sich ins kulturelle Gedächtnis der Amerikaner*innen, ja der ganzen Welt eingebrannt hat, sondern auch, weil die gewalttätigen Eindringlinge in besonderer Weise mit dem Raum interagiert haben. So haben sie ihm Einzelteile entwendet und damit die Unantastbarkeit des parlamentarischen Raums nachhaltig beschädigt. Wenn ein Mann, das Pult der Sprecherin des Repräsentantenhauses unterm Arm, den Weg nach draußen antritt, dabei mit einem kindhaft-schelmischen Lächeln in die Kamera blickt und die Hand zum Gruß erhebt, wird das Reden als Handlungsmodus der Politik symbolisch aus dem Raum getragen. Diese Einzelstücke mögen ersetzbar sein, die unantastbare, holistische Einheit ‚Kapitol‘ aber hat Risse bekommen.

Es blieb jedoch bei diesen, im Gegensatz zum Brand von Washington im Jahr 1814, als das Gebäude in weiten Teilen zerstört wurde. Britische Truppen hatten damals ganz gezielt öffentliche Gebäude angegriffen und in Brand gesetzt. Lediglich plötzlich einsetzende starke Regenfälle verhinderten die komplette Zerstörung des Kapitols.2 Seitdem ist es weder in erheblichem Maße unerlaubt betreten noch beschädigt, aber stetig erweitert worden. Und auch der Gebrauch änderte sich kurzzeitig, als das Gebäude 1861 im Zeichen des Bürgerkriegs als Militärbaracke, Krankenhaus und Bäckerei verwendet wurde. Seinen wortwörtlich krönenden Höhepunkt fand der Weiter- und Umbau 1863, als die Staute der Freiheit auf der Kuppel platziert wurde.

Die fehlende Zerstörung des Kapitols im Zuge seiner Erstürmung hat zur Folge, dass die zahlreichen Kunstwerke und ehrwürdigen Hallen selbst zu stummen Zeugen der Ereignisse werden. Sie haben es miterlebt und überlebt. Gerade weil die materielle Struktur des Raumes annähernd unverändert fortexistiert, kann sie nicht einfach durch eine neue, ‚unbefleckte‘ ersetzt werden. Dieses Vorgehen der Eindringlinge ist verwunderlich, wenn man unter Rückgriff auf Lefebvre den Raum vor allem als Ausdruck der Herrschaftsverhältnisse begreift. Ohne die Zerstörung der materiellen Basis sind die ‚Eliten‘ ihres räumlichen Ausdrucks faktisch nicht beraubt, der Angriff insofern gescheitert. Aber die Trump-Fans verstehen das Kapitol nicht als einen Raum der Eliten, sondern als einen Raum des Volkes, aus dem die Eliten – und dazu gehörten am 6. Januar in concreto auch die Republikaner – vertrieben werden müssten. Das ist klassischer Populismus, bei dem „einem moralisch reinen, homogen Volk stets unmoralische, korrupte und parasitäre Eliten gegenüberstehen – wobei diese Art von Eliten eigentlich gar nicht wirklich zum Volk gehören“.3 Die demokratischen Gebäude werden von den selbsternannten Verteidigern der Demokratie reklamiert anstatt zerstört. Da scheint es egal, dass das eigene Ziel in Wirklichkeit der Autoritarismus ist.

Mit dem Sturm auf das Kapitol haben sich diese Eindringlinge folglich Lefebvres Theorie zugleich ‚bedient‘ und ‚nicht bedient‘. Sie haben, und der Begriff sei im Zusammenhang mit diesen antidemokratischen Kräften erlaubt, eine besondere Form der ‚Raumpolitik‘ betrieben. Den Demokratien wird die Deutungshoheit über ihre heiligen Räume entzogen, deren Gebrauch zugleich prekär wird. Auch wenn diese Raumpolitik hauptsächlich auf Ebene der Repräsentationsräume agiert und die reale Gefahr eher gering ist, verändert sie doch die Art und Weise, wie Demokratien diesen Raum verwenden, nicht nur innen, sondern auch außen. Die räumliche Praxis der Capitol Police jedenfalls wird mit Sicherheit auf den Prüfstand gestellt. Damit sind die Ereignisse vom 6. Januar zugleich Beleg für Lefebvres Theorie, dass der Raum immer ein Zusammenspiel von Mensch und Ort ist.

Symbolisches Agieren

Dass hinter all dem eine Strategie stecken könnte, zeigen nicht zuletzt der Ansturm auf den Reichstag, das Einschleusen von Personen in das Parlament durch die AfD und der Aufruf zum Sturm auf das US-Konsulat durch die Querdenken-Gruppe in Leipzig.4 Im Zentrum des Kapitolsturms stand dabei weder ein Umsturz mit Inthronisierung neuer Herrschender (Putsch) noch ein gewalttätiger, einzig an Destabilisierung interessierter Anschlag (Terrorismus) – auch wenn einige der gewaltbereiten Eindringlinge genau das geplant hatten. Der Literaturwissenschaftler Hans-Ulrich Gumbrecht hat deshalb passenderweise, alle Gefahren und Gewalttaten der Ereignisse anerkennend, von einer Art „Fantourismus“ gesprochen.5 Spaß, Souvenirs und Urlaubsfotos inklusive. Gerade letzteres überrascht, schließlich lebt die Straftat ursprünglich von ihrer Verschleierung. Und diese ist in Zeiten obligatorischer Mund-Nasen-Bedeckungen einfacher denn je. Der Sturm aber fand nicht im Geheimen statt, sondern wurde von den Stürmer*innen öffentlich zelebriert. Den Raum zu prägen, sich in die kulturellen Wissensbestände einzuschreiben gelingt eben nur, wenn der Rest der Welt davon erfährt. Die marginalen Zerstörungen am Gebäude berichten davon nämlich kaum.

Der gesamte Sturm lebt von seiner Inszenierung, genauso wie der einzelne Eindringling. Tiefenentspannt ein Selfie auf dem Sitz des Vizepräsidenten im Senat zu schießen wagt sich nicht einmal der Vizepräsident und verschafft dem antidemokratischen Selfmade-Fotografen somit ein enormes Standing in den eigenen Reihen. Und dass einen zwischenzeitlich das Gefühl beschlich, die Wikinger seien in den USA gelandet und mit ihren archaischen Verhaltensweisen, von Tierfellen bedeckten nackten Oberkörpern und langen, ungepflegten Bärten direkt ins Kapitol marschiert, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese so anachronistisch wirkenden Horden hochgradig symbolisch an der Unterminierung der Demokratie arbeiten. Ihre Inszenierungspraktiken sind sowohl traditionell, weil Fahnenträger, dreifaltige Heldenpose und auch halbnackter Schamane auf gängige Ikonographien der amerikanischen Geschichte referieren,6 als auch modern, indem sie auf soziale Medien und professionelle Fotografie zurückgreifen. Und es stimmt, der Sturm auf das Kapitol, er wäre in dieser Art und Weise vor 150 Jahren nicht möglich gewesen, weil weder die Tweets eines Präsidenten die Masse hätten aufhetzen, noch diese Masse ihre Taten eigenständig in den Medien hätte verbreiten können.

Wie stark diese Verschränkung von digitaler und analoger Welt in den Köpfen angekommen ist, zeigten auch all die Kommentator*innen, die während der Ereignisse forderten, Trump möge seinen Mob endlich per Twitter zurückpfeifen. So berechtigt diese Forderung an einen US-Präsidenten als ‚Anführer der freien Welt‘ ist, unterschlägt sie doch, dass Trumps Statement seine Fans in diesem Moment kaum erreicht hätte und viel eher ein Zeichen an die Demokrat*innen dieser Welt gewesen wäre. Die Devise ‚Der Präsident schreibt, alle folgen‘ ignoriert im Glauben an die Hörigkeit der Masse zudem, dass all diese Antidemokrat*innen auch in der Post-Trump-Ära weiter ihre Verschwörungsmythen verbreiten und die Demokratie gewalttätig angreifen werden. Und das ist die eigentliche Gefahr.

Hintergrund der medialen Begleitung war dabei eine stundenlange Galerie der immergleichen Bilder. Dass die einzige Variation in der Bewegung des Uhrzeigers zu bestehen schien, lag nicht zuletzt an der Capitol Police und den weiteren Einsatzkräfte. Während die eingesetzten Polizisten aufopferungsvoll das Kapitol verteidigten, wurden sie durch ihre Einsatzleitung wortwörtlich alleine gelassen. Wir alle wussten, dass entsprechende Hollywood-Filme patriotische Fiktion sind, aber dass die Sicherheitslage am Capitol Hill stundenlang an eine Purge-Nacht erinnerte, musste dann doch Fassungslosigkeit hervorrufen. Dass die Eindringlinge ihren Auszug aus dem Kapitol selbstbestimmt antreten konnten, dabei sogar noch an der Hand gehalten die Treppe hinuntergeführt wurden, ist nicht nur strafrechtlich problematisch, sondern gewährt diesen Antidemokraten einen weiteren moralischen Sieg. Deren Narrativ ist komplettiert: Wir sind problemlos in das Kapitol eingedrungen, haben uns dort einen schönen Nachmittag gemacht bis uns langweilig wurde und sind dann wieder gemütlich herausspaziert – „They didn’t take it, we gave it“.

Die Rückkehr des Momenthafen

Die Einsatzkräfte waren nicht darauf vorbereitet, dass der Momentcharakter in die Politik der USA zurückkehren würde. Schließlich hat sie in den vergangenen Monaten stets in Wiederholungen und Streckungen operiert: als Wahlkampfmarathon; als tagelanger Wahlabend; als Wechselspiel von Wahlanfechtung und Klageabweisung; als Zitterpartie bis zur Inauguration. Dadurch entstand der Eindruck, all die Schreckensszenarien von Supreme Court-Urteil bis Bürgerkrieg würden nicht eintreten. In dieser Stimmung haben die Sicherheitsbehörden Trumps Tweets und Reden, in denen er seit Wochen eine große Aktion am 6. Januar beschwört,7 ignoriert. Sie haben nicht damit kalkuliert, dass der Ehrfurchtsverlust vor der Demokratie, ihren Institutionen und ihrer räumlichen Struktur derart gewaltig ist. Mit dem Sturm auf das Kaptiol ist der Momentcharakter nun kurz vor dem Ende dieser langen Zwischenphase wie der Phönix aus der Asche erstiegen.  Es hat sich etwas entzündet, dass weiterlodern wird, möglicherweise in erneuten Stichflammen emporschießt, versucht, zum Flächenbrand auszuarten. Es wird die Räume der Demokratie nicht niederbrennen, sondern ihre Akteure auszuräuchern versuchen. Die „postheroischen Gesellschaften“8 werden diesem Feuer des Pseudo-Heroismus mit ihren eigenen Mitteln entschlossen entgegentreten müssen.

  1. Lefebvre, Henri: Die Produktion des Raums, in: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, hg. von Jorg Dünne und Stephan Günzel in Zusammenarbeit mit Herman Doetsch und Roger Lüdeke, übers. von Jorg Dünne, 7. Aufl., Frankfurt a. M. 2012 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1860), S. 330–342, hier S. 330.
  2. Vgl. hierzu und zu allen weiteren Ausführungen über die Geschichte des Kapitolgebäudes History of the U.S. Capitol building, Architect of the Capitol, online unter: https://www.aoc.gov/explore-capitol-campus/buildings-grounds/capitol-building/history (Abrufdatum: 09.01.2021).
  3. Jan-Werner Müller: Was ist Populismus? Ein Essay, Berlin 2016 (edition suhrkamp), S. 42.
  4. Vgl. dazu Michael Blume: Experte hält Verbindung von ‚Querdenkern‘ und QAnon für gefährlich, in: Stuttgarter Nachrichten, 09.01.2021, online unter: https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.michael-blume-aus-baden-wuerttemberg-antisemitismusbeauftragter-haelt-verbindung-von-querdenkern-und-qanon-fuer-gefaehrlich.eaaee43e-9b5a-484b-82c5-4ef63e5d778b.html (Abrufdatum: 09.01.2021).
  5. Hans-Ulrich Gumbrecht: Gewalt ohne Konzept, Interview von Dieter Kassel, 07.01.2021, online unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/zur-erstuermung-des-us-kongresses-gewalt-ohne-konzept.1008.de.html?dram:article_id=490383 (Abrufdatum: 08.01.2021).
  6. Vgl. hierzu Andrian Kreye: Der mit dem Büffel tanzt, in: Süddeutsche Zeitung, 08.01.2021, online unter: https://www.sueddeutsche.de/kultur/usa-kapitol-sturm-historische-vorbilder-trump-1.5167524 (Abrufdatum: 09.01.2021).
  7. Vgl. Rebecca Ballhaus, Joe Palazzolo und Andrew Restuccia: Trump and his allies set the stage for riot well before january 6, in: The Wall Street Journal, 08.01.2021, online unter: https://www.wsj.com/articles/trump-and-his-allies-set-the-stage-for-riot-well-before-january-6-11610156283 (Abrufdatum: 09.01.2021).
  8. Zu diesem Begriff Herfried Münkler: Heroische und postheroische Gesellschaften, in: Merkur 700 (2007), S. 742–752.