Wie der Spotify-Jahresrückblick uns verändert

Ende des Jahres verbreitet die Streamingplattform Spotify an hunderte Millionen von Nutzern einen personalisierten musikalischen Jahresrückblick. Obwohl dieser Spotify-Jahresrückblick wohl das Massenphänomen digitalen Erinnerns ist, hat bisher keine systematische Auseinandersetzung mit ihm stattgefunden. Dabei ist er ziemlich spannend – und von ökonomischem Kalkül getrieben.

Während in deutschen Innenstädten Nordmanntannen erleuchten und weihnachtliche Musik erklingt, wird in Stockholm das Licht für den Blick zurück angeknipst. Untermalt mit Musik verbreitet sich der Spotify-Jahresrückblick von der Konzernzentrale aus an alle Nutzer. Und so flimmert zu Dezemberbeginn über die Handydisplays ein fröhlich-grelles, aber doch kaltes LED-Kolorit, das sich abhebt von der warmen, an alte Glühbirnen erinnernden Atmosphäre der Weihnachtsmärkte. Der Blick ins Glühweinglas wird dann schnell eingetauscht für den Blick in die jüngste Vergangenheit. Dabei sind die Rückblicke nicht nur in jeder Spotify-App, sondern auch bald in den Sozialen Medien zu finden, werden sie doch von den Nutzern scharenweise veröffentlicht.

Facebook als Paradigma

Der Spotify-Jahresrückblick ist damit eine der beliebtesten von zahlreichen digitalen Erinnerungspraktiken. Es gibt Erinnerungsapps wie Timehop, moderne Dia-Show-Abende in Apple Photos, Facebook-Erinnerungen – und eben Spotifys Jahresrückblick. Dabei hat gerade dieser in der wissenschaftlichen Forschung bisher keine Aufmerksamkeit gefunden. Vielmehr beschäftigt sie sich primär mit Facebook. Dabei liegt der Blick zurück Sozialen Medien eigentlich fern. Ihr Ordnungsprinzip ist vielmehr die Aktualität, die sich sprachlich in news feeds und time lines niederschlägt.1 Schließlich verspricht das Aktuelle durch seine Neuartigkeit ein erstes und damit auch engagierteres Sehen. Nutzer, so das Kalkül, verbringen mehr Zeit auf der Plattform, wenn sie stets mit Neuem konfrontiert werden. Bezüge auf vergangene Inhalte sind dementsprechend zwar möglich, aber aufwändig. Sie basieren darauf, dass dieser Aktualitätsorientierung die Speicherwut des Internets entgegensteht, das zum „Archiv aller möglichen Sätze über alle möglichen Sachverhalte“ mutiert.2 Auch Soziale Medien speichern alles, verdrängen das Gespeicherte aber an die Ränder. So wandern die Beiträge in der Facebook-Chronik immer weiter nach unten, ins digitale Abseits. Und auf Instagram besteht das auch explizit als solches bezeichnete ‚Archiv‘ gerade aus den Posts, die der Nutzer nicht gelöscht, aber doch von seinem öffentlichen Profil hin in die Unsichtbarkeit verschoben hat.

Erst durch die Speicherung ist Sozialen Medien die Option des Erinnerns eingebaut. Plattformen wie Snapchat, die sich gerade dadurch auszeichnen, dass sie nicht speichern,  sind folglich Plattformen des Vergessens. Dabei findet mit der Speicherung zugleich eine Datierung statt. Es gibt, mindestens für einen Großteil digitaler Anwendungen, keine digitalen Spuren ohne Datumsangabe. Die Digitalisierung datiert im doppelten Sinne des Wortes: in Daten und mit dem Datum. Genau in dieser Datierung nun liegt der Grundmechanismus der Facebook-Erinnerungen. Der Kulturwissenschaftler Roberto Simanowski hat hier von einer „Erinnerungslogik des Jahrestages“ gesprochen, bei der nur die „Verjährung“, nicht aber die Bedeutung eines Ereignisses zähle.3 Facebook zeigt dabei in seinem Erinnerungstool im Feed des jeweiligen Nutzers immer wieder Posts, die an genau diesem Tag in der Vergangenheit entstanden sind (entsprechend hieß die Anwendung früher ‚On this Day‘, bevor sie in ‚Facebook Memories‘ umbenannt wurde). Hinzu kommt ein eigener Bereich ‚Erinnerungen‘, in dem die Erinnerungen dieses Tag aufgeführt sind. Deaktivieren lässt sich all das nicht, nur in seinen Inhalten begrenzen.

Solche strikten Datierungen haben mit dem individuellen Gedächtnis jedoch nur bedingt zu tun. Erinnerungen besitzen selten Datumsangaben. Sie kennen weniger Tag, Uhrzeit und Datum als Monat, Jahreszeit und Lebensphase. Zwar gibt es auch hier datierte Erinnerungen wie Geburtstag oder Hochzeitstag. Gleiches gilt für das kollektive Gedächtnis mit seinen Jahres- und Gedenktagen. Aber, und das ist nun Simanowskis zentrales Argument, diese Ereignisse seien einzigartig, mit unzweifelhafter Bedeutung aufgeladen, während Facebook überwiegend an unbedeutende Ereignisse wie einen Eisbecher im Café erinnere.

Eine solche These hat weitreichende Konsequenzen für die Theorie Sozialer Medien. Wenn auf den Plattformen, die wie Facebook oder Instagram persönlich organisiert sind, lediglich persönlich Irrelevantes veröffentlicht wird, also nichts (oder nur weniges), das aus Perspektive des Individuums als Erinnerung qualifiziert, gilt es, Begriffe wie „öffentliche Autobiographisierung“ 4 weitaus stärker unter der Differenz von privatem und öffentlichem Ich zu lesen. Die Inhalte reichen zum Posten, aber nicht zum Erinnern. Genau das wäre ja Selbstdarstellung. Erinnern und Veröffentlichen hängen im Digitalen dann zwar zusammen, fallen aber zugleich auseinander.

Nicht jeder Post aber ist persönlich irrelevant. Ohnehin erhalten manche Momente erst durch ihre mediale Veröffentlichung Bedeutung, ist Posten eine Praxis der Memoration. Und das Digitale produziert auch Erinnerungen ganz eigener Art, schließlich ist es zu einem eigenständigen Bereich des Lebens geworden. Dass Facebook vergleichsweise unbedeutende Posts als Erinnerungen präsentiert, zeigt dann, wie komplex das Material ist und wie viel digitale Erinnerungsanwendungen investieren müssen, um zu bedeutsamen Erinnerungen vorzudringen – und trotzdem scheitern können. Facebook bringt dementsprechend nicht jeden Post wieder an die Oberfläche. Vielmehr wird algorithmisch kuratiert, welche Posts für Facebook als Erinnerung qualifizieren. Die Sozialwissenschaftler Benjamin N. Jacobsen und David Beer haben diese Erinnerungslogik ausführlich verhandelt und dabei zwei Phasen unterschieden: In einem ersten Schritt würden Posts aufgrund von Bild- und Textanalysen in einer Typologie eingeordnet (taxonomy), während im nächsten Schritt innerhalb dieses Typs die einzelnen Posts evaluiert würden (promotion).5

Dabei fließen die verwendeten Emojis, Texte (‚Sorry about the breakup‘) und Bildinhalte in die Prozesse mit ein.6 Auch Teilbarkeit ist ein entscheidender Parameter, denn letztlich folgen Facebook-Erinnerungen der klassischen Logik Sozialer Medien: Umso mehr Inhalte geteilt werden, umso mehr Komplexität Facebook also zur Verfügung hat, umso stärker kann die Plattform diese Komplexität zugleich modellieren und reduzieren, also passende Posts auswählen, die im News Feed des Nutzers angezeigt werden und ihn so an die Plattform ‚fesseln‘. Auch Erinnerungen müssen sich in dieser Komplexitätsmaschine beweisen, und zwar im News Feed des Individuums genauso wie in dem seiner sozialen Kontakte. Und weil Posts mit Begriffen wie miss (‚miss your face‘) eher geteilt werden als mit Essensvokabeln, steigt weniger der von Simanowski angesprochene Eisbecher an die Oberfläche als vielmehr das emotional codierte Bild der Kinder oder des Lebenspartners.7

Nicht zuletzt spielen auch die klassischen Maßeinheiten Sozialer Medien eine Rolle: Likes, Shares und Kommentare.8 Umso mehr Likes ein Post hatte, umso wahrscheinlicher reaktiviert Facebook ihn als Erinnerung. Es gibt also eine Art Sozialprägung des Facebook-Erinnerns, Fremdhandeln bestimmt die Selbstwahrnehmung; zumal Erinnerungen auch Posts von anderen sein können, die den Nutzer hierbei markiert haben. Damit ist das digitale Erinnern doppelt fremdbestimmt: zum einen durch die Algorithmen, zum anderen durch die sozialen Rückmeldungen anderer Nutzer. Das Selbst wird als Träger der Erinnerungen degradiert zugunsten externer Gedächtnisse, die nicht nur archivarisch speichern, sondern auch selektieren und zurückspiegeln. Weil Facebook (in seiner digitalen Einflusssphäre) darüber entscheidet, was Erinnerungen sind – bzw. nach eigener Vorstellung die bisherigen Erinnerungsregeln nachzeichnet –, verhandelt die Plattform zugleich mit, was kulturell als Erinnerung gilt. Dabei zielt Facebook nicht zwangsweise auf die emotionalsten Inhalte, sondern diejenigen, die am ehesten gesehen und geteilt werden. Facebook prägt folglich, was als Erinnerung wahrgenommen wird9 – und was überhaupt wahrgenommen wird. Denn manche Posts werden im Vorhinein ausgeschlossen. Es arbeiten nicht nur Klassifizierungs- und Auswahl-, sondern auch Exklusionsmechanismen. Seit ein Nutzer 2014 auf Facebook das Bild seiner verstorbenen Tochter als Erinnerung angezeigt bekam, versucht Facebook, solche negativen Posts systematisch zu filtern.10Es ist nur Platz für positive Erinnerungen.11 Technikkritisch resümiert Simanowski: „Ein solches ‚Erinnern‘ ist das Ende des Vergessens, das die Voraussetzung jedes vernünftigen Erinnerns darstellt, und entwertet so die emotionale Kraft des Erinnerten. Das Gedächtnis wird von einem Seismographen des eigenen Lebens zum Kunstprodukt digitaler Technologien.“12

Spotify ist nicht Facebook

In einer solchen Technikkritik schwingt ein erhebliches Maß an Generalisierung mit. Aus der Beschreibung des Facebook-Erinnerns wird eine Generalthese des digitalen Erinnerns. Facebook wird zum ‚Archetyp‘ stilisiert.13 Damit vernachlässigt die Forschung, andere digitale Erinnerungsformen adäquat zu beschreiben. Denn die Anwendungen operieren je spezifisch.

Auch der Spotify-Jahresrückblick unterscheidet sich vom Facebook-Erinnern in vielerlei Hinsicht. Anstatt Einzelereignisse immer wieder an die Oberfläche zu holen, fasst Spotify das Hörverhalten eines gesamten Jahres zusammen. Im Englischen heißt der Jahresrückblick dementsprechend ‚Spotify Wrapped‘. Dabei wird das Hörverhalten in einer individuellen und einer kollektiven Variante ‚zusammengewickelt‘. In Playlists mit den Top-Hits des Jahres für verschiedene Länder und Genres fließt das Verhalten aller Nutzer auf Spotify ein, manifestiert sich eine Art kollektives Gedächtnis. Demgegenüber wird im individuellen Jahresrückblick das Konsumverhalten jeder Einzelperson zusammengefasst und dieser präsentiert. Hierbei fließen alle 30-sekündigen Streams von Januar bis einschließlich November ein. Mit Grafiken, Bildern und Animationen versehen ergibt sich daraus dann eine kleine Art ‚Film‘. Diese personalisierten Jahresrückblicke existieren seit 2015 und sind maßgeblich davon geprägt, dass Spotify seit dem US-Markteintritt 2011 die Personalisierung der Plattform stetig intensiviert.14 Während der Jahresrückblick früher nur über das Web abrufbar war, wird er passend hierzu seit 2021 nur noch direkt an die Nutzer und ihre Spotify-Apps ausgespielt.

Dass Einzelereignisse auf Spotify nicht erinnert werden, liegt schon allein daran, dass das Hören eines Songs selten als Erinnerung qualifiziert. Vielmehr ist Musikhören eine repetitive Tätigkeit. Gerade in der Intensität dieser Repetition entscheidet sich, welche Inhalte in den Spotify-Jahresrückblick Eingang finden. Spotify kann also allein der Musik wegen nur begrenzt über eine Erinnerungslogik des Jahrestags operieren. Entsprechend verfährt die Plattform im Modus der Akkumulation. Es gibt lediglich Maximalzahlen: Die meistgehörten Songs, Künstler und Podcasts werden genauso wie die Gesamtanzahl der gehörten Genres und Künstler aufgelistet. Damit erzeugt Spotify ganz ähnliche Leerräume des Erinnerns wie Facebook. Denn alles andere fließt nur anonym in die von Spotify errechnete Gesamthörzeit ein (und auch in die Maximalzahlen ‚Genres‘ und ‚Künstler‘). Rand- und Mittelfiguren des Musikkonsums werden anonymisiert, ohne aber im Vorhinein wie bei Facebook exkludiert zu werden. Spotify erinnert an alle – und doch nur wenige.15

Algorithmen finden als Auswahl- und Sortierungsmechanismen des Erinnerns damit keine Anwendung, sind aber integraler Bestandteil der Plattform. Sie kuratieren Playlists, Songvorschläge und eine wöchentliche, individualisierte Songzusammenstellung (‚Mix der Woche‘), während sie zugleich über die Platzierung von Musik und Playlists in der Benutzeroberfläche entscheiden. Diese Personalisierung folgt einer ähnlichen Logik wie die Sozialer Medien: Umso mehr neue und zugleich passende Inhalte den Nutzern angeboten werden, umso mehr Zeit verbringen die Nutzer auf der Plattform. Algorithmen beeinflussen somit nur vermittelt über Konsumentscheidungen den Jahresrückblick.

Ebenso wenig findet sich auf Spotify die im Facebook-Erinnern so relevante soziale Prägung des Erinnerns. Fremdverhalten bleibt folgenlos. Es gibt keine soziale Interaktion à la Like und Kommentar. Zwar existieren öffentlich einsehbare Profile, daneben Follower, Teilmöglichkeiten und kollaboratives Hören, die Spotify ab 2010 unter dem Einfluss Facebooks einbaute,16 genauso wie ein News-Feed mit dem Hörverhalten anderer Nutzer. Aber dies sind nur randständige Strukturen, die weder obligatorisch noch vielgenutzt sind. Allerhöchstens aus der Masse und ihren durch die Charts vermittelten Höraktivitäten wird der einzelne Hörer und sein Jahresrückblick indirekt beeinflusst.

Theorien wie die des Facebook-Erinnerns können dementsprechend nur bedingt auf Spotify übertragen werden. Spotify ist eine Plattform eigener Art und der Spotify-Jahresrückblick ein Erinnern eigener Art. Insofern können die Überlegungen zu Facebook eher als Vergleichsfolie dienen, vor der sich der Spotify-Jahresrückblick konturiert.

Dass Spotify kein Soziales Medium ist, bedeutet aber nicht, dass Profile hier keine Rolle spielen, Nutzer nicht beobachtet und in Daten gespeichert werden. Profile sind nicht nur die Oberflächenstrukturen des Digitalen, in denen sich die für andere Nutzer sichtbaren Außendarstellungen niederschlagen. Sie sind zugleich dessen Tiefenstrukturen, indem in ihnen, nur für den Plattformbetreiber zugänglich, jegliches Verhalten des Individuums in Datenspuren protokolliert wird. Dies ließe sich womöglich auch in der Differenzierung von ‚Profil‘ (Oberflächenstruktur) und ‚Account‘ (Tiefenstruktur) begrifflich fassen. Entscheidend ist nun, dass die die Profilbildung (bzw. die Accountstruktur) für die Personalisierung unerlässlich erscheint. Und damit auch für den Spotify-Jahresrückblick. Nur so können neben den Top-Hits des Jahres auch individuelle Rückblicke zusammengestellt werden. Es kauft und hört dann nicht mehr nur eine Masse, sondern ein Individuum. Verhalten kann zugerechnet werden. Das ist musikhistorisch gesehen eine Neuheit. Den Musikkonsum in Daten zu speichern und einer Person zuzurechnen, war weder dem Radio, der CD noch dem Walkman möglich.

Darüber hinaus ist der Jahresrückblick auch an die materiellen und medialen Verhältnisse rückgebunden. Denn er ist erst aussagekräftig, wenn sich der Musikkonsum ausreichend auf Spotify verlagert. Dafür muss Musik zum einen portabel sein. Smartphone, Spotify-App und vor allem die Offline-Speicherung der Songs stellen genau diese Bedingungen her. Individueller Musikkonsum und Spotifykonsum nähern sich schrittweise an, über Spotify kann überall Musik gehört werden. Allein durch die Portabilität wird das Musikhören aber nicht individuell. Es musste nicht nur delokalisiert, sondern auch desynchronisiert werden. Schließlich ermöglichte schon das Autoradio mobile Musik, war aber noch von einem zentralen Sender abhängig, dem zahlreiche Empfänger gegenüberstanden, die zum gleichen Zeitpunkt das Gleiche hörten. Ab 1979 konnte mit dem Walkman die eigene Musik dann auf Kassetten transportiert werden, zuvor ab 1962 schon mit dem Stereo-Pak, der aber auf vier Songs begrenzt war.17 Mit Spotify wird diese Individualisierung des Musikhörens im großen Stil fortgeführt, der Empfänger wird zum eigenen Sender, er hört asynchron, insofern er das Programm aus einer schier unendlichen Auswahl selbst bestimmt. Und genau diese Selbstbestimmung fasst Spotify dann im Jahresrückblick zusammen.

Erst diese Kombination aus Delokalisierung, Asynchronität und Zurechnung führt dazu, dass es eine Erinnerungspraktik wie den Spotify-Jahresrückblick geben kann. MaW.: Spotify musste alle drei Elemente zusammenführen, um sich zum einen gegen bisherige Praktiken des Musikhörens durchzusetzen; zum anderen, um dieses Musikhören im Jahresrückblick abbilden zu können. Spotify ist dann nicht nur eine spezifische Art von Plattform, die aufgrund ihrer Struktur und ihres Inhalts nur sinnvoll in Jahresrückblicken erinnern kann. Es kann einen solchen personalisierten Jahresrückblick auch nur mit dieser Art von Plattform und Inhalt geben. Weder kann Spotify an Einzelereignisse erinnern, noch kann Facebook im Modus der Akkumulation einen persönlichen Jahresrückblick generieren und beispielsweise die häufigsten Posts zusammentragen.

Die Narrative des Jahresrückblicks

Genau auf die Selbstbestimmung kommt Spotify im Jahresrückblick immer wieder zu sprechen. Die Plattform zeichnet das Bild eines außergewöhnlichen, selbstbestimmten und explorationsfreudigen Individuums. Der Jahresrückblick 2021 beispielsweise konstatiert: „Wenn 2021 ein Film wäre, wärst du die Hauptfigur“ und fügt hinzu: „Für dich war die Aufgabe immer klar“. Im Jahr 2021 lobt Spotify: „Wenn Podcasts hören eine olympische Disziplin wäre, hättest du sicher eine Chance aufs Treppchen“. Ähnliche Formulierungen auch in den Jahren zuvor: „Sogar 2020 hast du es geschafft, über dich hinauszuwachsen“ (2020), „December has too many end-of-year lists already, but yours is special“ (2018), „You’ve always known you’re not average, right?“ (2017).18 Die Außergewöhnlichkeit des einzelnen Hörers streicht Spotify dabei auch durch Relationierung heraus: Sie gehören bei ihren Lieblingskünstlern stets zu den treuesten Fans, was Spotify in einer Prozentangabe verdeutlicht (‚Top x-Prozent‘). Der Einzelne wird zum herausragenden Mitglied der Plattform stilisiert. Diese Rede von der Exorbitanz verbindet Spotify mit Entdeckungsfreudigkeit. Da ist die Rede von „Pionier*in“ (2020), „Abenteuermodus“ und „Reisende*r“ (2022), da wird gefragt: „Wer weiß, was du sonst noch alles so entdeckst?“ (2021). Im Jahresrückblick 2019 wird dies sogar kosmopolitisch gewendet: „When it comes to your music, borders disappear“, woraufhin der Hörer zum „World citizen“ erhoben wird.

Viele Farben, gleiche Botschaft: Individualität und Exploration im Spotify-Jahresrückblick

Der Hörer als außergewöhnlicher Entdecker, produktiver Musikkonsument, musikalischer Kosmopolit – dieses Narrativ steht den begrenzten Freiheitserfahrungen unter Pandemie-Bedingungen entgegen. Spotify konstruiert sich damit als Freiheitsraum in Zeiten der gesellschaftlichen Drosselung: „Wer sagt, dass man nach draußen gehen muss, um Neues zu entdecken?“ (2020). Das passt zu einer Rhetorik, in der Spotify Musik sowie Playlists explizit positiv konnotiert und als Gegenmittel für schlechte Lebensphasen darstellt.19Im Jahr 2021 wird die Plattform sogar zum persönlichen Nahbereich stilisiert: „Völlig normal, dass du die Hosts deiner Lieblingsshow zur Familie zählst“. Intimität und Individualität gehen Hand in Hand.

All das wird an alle gleichermaßen ausgespielt. Die individualitätsgetränkten Sätze sind in jeden Jahresrückblick geschrieben. Spotify individualisiert also das Erinnern, erinnert aber stets gleich. Jedes Jahr erhält jeder Hörer einen in seiner Grundstruktur gleichen Jahresrückblick. Alle werden in den gleichen Erzählmustern mit den gleichen Sätzen erzählt. In festgelegten Kategorien entfalten sich Statistiken. Damit wird Individualität fingiert, zum rhetorischen Placebo. Zwar ist das Hörverhalten durchaus individuell, wird aber eben nach den gleichen Mustern ausgewertet: Akkumulationen des Meistgehörten und Neuentdeckten. „Das ganze Podcast- und Musikhören hat sich summiert!“, fasst Spotify im Jahresrückblick 2022 zusammen. Die statistischen Akkumulationen werden dann fast schon brachial in die Muster eingedrückt. Das kann bizarre Folgen haben, wenn beispielsweise bei den auf Spotify im Vergleich zur Musik noch ein Schattendasein fristenden Podcasts geringere Konsumzeiten auf Formulierungen treffen wie „Ein Podcast hat dich das ganze Jahr über begleitet“ (2021). Der Jahresrückblick scheitert dann an seinem eigenen Erzählmaterial, die Struktur gerät in Konflikt mit dem Inhalt.

Dass Spotify technisch nicht an Millionen Nutzer hochgradig personalisierte Jahresrückblicke ausspielen kann, mithin ein Schema des Rückblickens benötigt, ist offensichtlich. Auch Facebook holt die Erinnerungen nur an die Oberfläche, ohne sie weitläufig auszuerzählen. Umso mehr lohnt es sich, die Erzählweise genauer zu analysieren, um fluide von festen Stellen des Schemas zu unterscheiden und darüber die Machart des Jahresrückblicks in den Blick zu bekommen.

Dabei zeichnet Schemata aus, dass sie eben nicht vollständig ausdekliniert sind, sondern „Dispositive von einem mittleren Härtegrad [darstellen], insofern sie die in ihnen enthaltenen Elemente konfigurieren, aber nicht bis ins Letzte festschreiben“, so der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke.20 Nun gibt es im Spotify-Jahresrückblick zwar offene Stellen, die mit Statistiken gefüllt werden. Abweichungen und Hinzufügungen sind aber unmöglich. Zumal die ‚Figuren‘ unterschiedlich handeln, sich dies aber nur bedingt niederschlägt. Die Daten werden summiert und derart angeglichen, dass beispielweise in der Gesamthörzeit die Relation zum Hörer unklar geworden ist. Verglichen mit einem solchen Schema-Begriff zeigt sich dann, dass der Jahresrückblick gerade nicht schematisch, sondern deterministisch erzählt; oder, anders formuliert: sein Schema bis ins Detail fest- und durchzieht.

Nun ließe sich das Schema auch auf abstrakterer Ebene verorten. Die offenen Stellen könnten nicht in den Statistiken, sondern in der varianten Anordnung der Erzählepisoden liegen. Aus dem Schema wird dann jedes Jahr eine Erzählung, ein Spotify-Jahresrückblick abgeleitet. Damit rückt eine weitere literaturwissenschaftliche Unterscheidung in den Blick. Die Erzähltheorie differenziert im Anschluss an die Sprachwissenschaft zwischen Syntagma und Paradigma. Unter syntagmatischem Erzählen versteht sie dabei ein systematisches Nacheinander. Ereignisse sind kausal und temporal verschaltet, sodass Ereignis B auf Ereignis A folgen muss, aber nicht umgekehrt erzählt werden kann.21 Ein einfaches Beispiel: ‚Der König erkrankte und starb‘ kann erzählt werden, nicht aber ‚Der König starb und erkrankte‘. Für viele dürfte dies die ‚klassische‘ Form der Erzählung sein. Demgegenüber ist das paradigmatische Erzählen stärker an Ähnlichkeiten interessiert. An der Stelle des Ereignisses A kann genauso gut Ereignis C oder Ereignis D stehen. Nicht nur der König, auch der Kaiser oder der Schornsteinfeger können sterben. Paradigmatisch bedeutet zudem, dass diese Episode in der Erzählung an verschiedenen Stellen stehen kann. Sie ist verschiebbar, ohne den Sinnzusammenhang des Textes zu zerstören. So wäre egal, ob vom Tod des Königs vor oder nach der Mittagspause des Schornsteinfegers erzählt wird, wenn bzw. weil beide Episoden nicht miteinander in Verbindung stehen. In sich selbst sind die Episoden aber weiter syntagmatisch. Nicht jeder Satz, nicht jedes Ereignis kann in der Position beliebig verrückt werden – wie gerade gesehen.

Übertragen auf den Jahresrückblick zeigt sich nun, dass Spotify primär paradigmatisch erzählt. Zum einen können die ‚Figuren‘, die Hörer mit ihren Statistiken, beliebig ausgetauscht werden. Zum anderen gibt es zwar jedes Jahr die gleichen Elemente (entdeckte Genres und Künstler, meistgehörte Songs, Künstler und Genres sowie die gesamte Hörzeit), sie können jedoch frei arrangiert werden, ohne den Sinnzusammenhang zu unterminieren. Ob nun die beliebtesten Genres zu Beginn oder zum Ende des Jahresrückblicks aufgezeigt werden, macht keinen Unterschied. Das Schema ist also durchdekliniert und zugleich unendlich offen. Lediglich eine feste Reihenfolge lässt sich über die Jahresrückblicke hinweg feststellen: Die meistgehörten Songs gehen stets den meistgehörten Künstlern voraus. Aber auch dies ist nicht syntagmatisch in dem Sinne, dass die meistgehörten Künstler nur verständlich sind, wenn zuvor von den meistgehörten Songs berichtet wurde.

Ansätze für Syntagmatisches finden sich eher in den Einzelepisoden, insbesondere im Jahresrückblick 2019. Hier wird die Musik jeder Jahreszeit zusammengestellt, sodass sich eine vierteilige Geschichte ergibt: „In 2019, your sound changed with the seasons“. Auch in anderen Jahren gibt es solche Reihungen des Nacheinanders. So wird im Jahresrückblick 2020 unter der Überschrift „Dein Jahr 2020 mit dem Song …“ in einer Videoepisode das Hörverhalten des meistgehörten Songs skizziert: Auf den Tag des ersten Streams folgt der Tag mit den meisten Streams, gefolgt vom Tag des hundertsten Streams und der Gesamtzahl der Streams. Ähnlich wurde im Jahresrückblick 2018 vom ersten Song und ersten Künstler des Jahres erzählt. Im Jahresrückblick 2021 schließlich gibt es im Anschluss an die Metapher vom Nutzer als „Hauptfigur“ eine Unterteilung des ‚Films‘ in „Der Song im Vorspann“, „Der Song, der spielt, wenn du im strömenden Regen deine Liebe gestehst“ und „Der Song, der spielt, wenn du ein uraltes, rachsüchtiges Wesen besiegst“. Cineastische Genres werden hierbei frei kombiniert, die Hollywood-Romanze mit dem Fantasy-Blockbuster verheiratet.

Der Jahresrückblick als von Spotify angekündigtes Jahreshiglight

Neben Akkumulationen baut Spotify also durchaus temporale Ordnung ein. Kausale Verknüpfungen stellt die Plattform aber nie her. Definiert man Erzählen darüber, dass ein Grundmaß an syntagmatischer Verknüpfung gegeben sein muss, Ereignisse also irgendwie miteinander verbunden sind, ordnet Spotify mehr, als dass es erzählt. Und zwar ähnlich thematisch wie manche Erinnerungsapps, die beispielsweise Fotos nach Ähnlichkeiten wie ‚Urlaub‘ oder ‚Familie‘ gruppieren, aber nicht in sukzessiven Zusammenhängen.22 Spotify selbst versteht seinen Jahresrückblick aber durchaus als Erzählen. „The heart of the entire Wrapped campaign is that we are telling stories through data“, fasst ein Entwickler in einem Werbevideo Spotifys zusammen.23 Das offenbart zugleich, dass Spotify Daten selbst schon als Geschichten zu verstehen scheint, denn schließlich wird ‚durch‘, nicht ‚mit‘ Daten erzählt.24

Ob letztlich eher von ‚Erzählen‘ oder ‚Ordnen‘ zu sprechen ist, ist einerseits nur eine definitorische Detailfrage. Die erzähltheoretischen Konzepte produzieren unabhängig hiervon fruchtbare Einblicke. Gleiches gilt für die Frage, ob die von Spotify ins Zentrum gestellte Individualität nun als ‚Narrativ‘, ‚Rhetorik‘ oder ‚Semantik‘ zu bezeichnen ist. Andererseits hat es in Zeiten, in denen gerne die ‚Vermessung‘ des Menschen beklagt wird, durchaus Relevanz, ob er hier vermessen oder erzählt wird. Statt vom erzählenden Jahresrückblick wäre dann nämlich eher vom Jahresbericht zu sprechen, wie ihn Unternehmen zum Jahresende vorlegen.

Der Begriff des Vermessens scheint auch deshalb als Gegenpol des Erzählens, weil stets der Vorwurf mitschwingt, menschliches Verhalten auf Zahlen zu reduzieren, während Erzählen in aller Ausführlichkeit nachvollzieht, inhärent individuell ist. Momente der Fremdbestimmung finden in ihm prononcierter Ausdruck als ihm Erzählbegriff, der sie nur offenbart, wenn ergänzt wird, dass die Hörer nicht selbst erzählen, sondern erzählt werden. Zumal Spotify nicht nur der Erzähler ist, sondern auch die Welt des Erzählten (die Plattform) bereitstellt. Dass Spotify damit in einer epistemologisch privilegierten Position ist, also Einsichten hat, die das Individuum nicht besitzt, gerade das nutzt Spotify für den Jahresrückblick. Die erinnerungspolitische Monopolstellung wird kultiviert. Und so baut Spotify Asymmetrien zu den Hörern auf. Da wird im Jahresrückblick 2022 ein an Tadel erinnernder Ton angeschlagen („Schauen wir uns mal an, wie dein Jahr so lief“), wie man ihn sonst nur von Eltern- und Lehrergesprächen kennt; generiert sich Spotify im Jahresrückblick 2021 als Belohnungsinstanz („Du verdienst eine Playlist, mindestens so lange wie deine Beauty-Routine“) und spricht davon, „stolz“ auf den Hörer zu sein; machen Rateelemente klar, dass Spotify mehr weiß als der Hörer, der dann aber für das richtige Erraten gelobt wird („Du kennst dich selbst wirklich gut“, 2020). Zwar reflektiert Spotify auch die eigene Position. Das sonst so durchleuchtete Individuum wird als undurchsichtig anerkannt („Dein Jahr lässt sich nicht in einer Playlist zusammenfassen“, 2022) – nur um dann nach der Feststellung „Dieses Jahr warst du vielschichtig, wie eine Zwiebel“ eine spezifische Hörpersönlichkeit (listening personality) zugewiesen zu bekommen. Im Ungreifbaren verortet Spotify das Individuelle, das so vielfältig ist, dass es nicht ausreichend in eine mit 100 Songs gefüllte Playlists gebracht werden kann – aber auf einen einzigen Begriff.

Spotify tritt damit wie eine Art gesellschaftliche Instanz auf, die die Identität des Individuums anhand festgelegter Kategorien konstruiert und zuschreibt. Die Hörer handeln, Spotify interpretiert das Handeln. Aus seiner privilegierten Wissensposition heraus. Und in den beschriebenen Individualitäts- und Entdeckerrhetoriken. Diese stimmt Spotify vielleicht auch deshalb an, weil sie zum Gestus Sozialer Medien passen. Schließlich finden sich die Jahresrückblicke zum Ende des Jahres nicht nur in der Spotify-App, sondern auch auf zahlreichen anderen Plattformen, insbesondere Instagram und Twitter. Spotify baut hierbei diese Veröffentlichung explizit als Option in den Jahresrückblick ein. Das ermöglicht den Nutzern, Spotify für die Selbstdarstellung zu funktionalisieren und damit zu einem Sozialen Medium zweiter Ordnung zu machen. Die von Spotify zugeschriebene Identität wird durch das Veröffentlichen ausgestellt, festgeschrieben und affirmiert. Damit öffnet sich das Erinnern zugleich für quantifizierende Logiken, denn neben die affektiv-intime Relation zur Erinnerung tritt die Bitte um soziale Relevanz für dieses Erinnern. Jacobsen und Beer haben dies mit dem Begriff „quantified nostalgia“ beschrieben und dabei insbesondere Facebook-Erinnerungen angesprochen, die, sofern veröffentlicht, durch Likes sozial goutiert würden.25 Erinnern wäre dann doppelt an das Soziale rückgebunden: in der Auswahl und im Veröffentlichen der Erinnerungen. Inwiefern das Motiv, für das eigene Erinnern positive soziale Rückmeldung zu generieren, hinter solchen Veröffentlichungspraktiken steht, ist bisher empirisch nicht beantwortet. Es dürfte aber einer von mehreren Gründen sein, der das massenhafte Veröffentlichen der Jahresrückblicke erklärt. Selbst wenn sie auf Instagram nicht in Posts, sondern in sogenannten Stories geteilt werden, auf die reagiert werden kann, die aber keine öffentlichen Like-Zähler kennen. Denn gerade die festen Erzählmuster Spotifys ermöglichen die Relationierung der Nutzer. Hörzeiten und Künstler-Ranglisten können öffentlich verglichen werden.

Alles nur ein PR-Trick?

Zur massenhaften Veröffentlichung mag auch beitragen, dass der Jahresrückblick über die Sozialen Medien hinweg als Kommunikationsthema aufgegriffen wird. Zahlreiche Memes und Umwidmungen verbreiten sich, sodass der Spotify-Jahresrückblick nicht nur zu einem Erinnerungsritual, sondern auch einer festen Diskursgröße des Dezemberanfangs geworden ist. Für Spotify geht damit das eigene Kalkül auf. Denn letztlich ist der Jahresrückblick eine Vermarktungsstrategie. Wenn einer der Entwickler von der „Wrapped campaign“ spricht, ist auf eben diese ökonomische Dimension des Jahresrückblicks verwiesen.26 Nicht nur grenzt sich Spotify dadurch von anderen Anbietern wie Apple Music ab. Die Nutzer werben kostenlos für den Dienst. Spotify funktionalisiert damit das persönliche Erinnern für die eigene Vermarktung. An überflüssigen erzählerischen Investitionen in den Jahresrückblick ist die Plattform dementsprechend kaum interessiert. Viel lieber weist Spotify immer wieder explizit auf das Teilen hin. Während im November der Jahresrückblick wiederholt ‚angeteasert‘ wird („Es ist fast Zeit für den Jahresrückblick“, 2022), ist in jeder Erzählepisode der Share-Button präsent. Am Ende des Jahresrückblicks thematisiert Spotify das Veröffentlichen dann jedes Jahr explizit und führt das musikalische Ich in einem einzigen Bild zusammen. Gebündelte Akkumulationen. Dieser Logik folgend hat Spotify die Veröffentlichungsoptionen sukzessive ausgeweitet, 2022 nun auf Kommunikationsdienste wie WhatsApp und Facebook-Messenger ausgedehnt, genauso wie auf Snapchat.27

Memes und Verfremdungen: Der Jahresrückblick als feste Größe des Jahresendes

Spotifys Vermarktungsabsicht wird besonders augenscheinlich in der analogen Kampagne. Spotify geht auf die Straße und an die Hauswände.28 Mit kollektiven genauso wie absonderlichen Zahlen. In der sonst so stark auf den Einzelnen ausgerichteten Erinnerungskultur der Plattform findet hier das kollektive Gedächtnis seinen (ökonomischen) Platz. Erfolg hat Spotify mit all dem durchaus. Die App wurde 2021 in der ersten Dezemberwoche 21% häufiger heruntergeladen, während die durchschnittliche Nutzerzeit zugleich erheblich stieg.29

Hinter dem Jahresrückblick stehen also auch ökonomische Interessen und PR-Kalküle. Spotifys musikalische Erinnerungsreise ist eben nicht nur an einer gewissenhaften Dokumentation des Individuums, sondern genauso dessen Geldbeutel interessiert, aus dem zu dieser Jahreszeit auf den Weihnachtsmärkten routiniert Münzen über die Glühweintheken wandern. Dass er dabei einige vom Glühwein angeregte Gespräche unterbrochen und den Blick auf die Displays gelenkt haben dürfte, ist nicht die einzige Wirkung Stockholms auf die geschmückten deutschen Innenstädte. Auch die musikalische Untermalung dürfte keinen anderen Ursprung haben als ein mit Spotify ausgestattetes Smartphone. Die Weihnachtssongs, die dabei zwischen den Holzhütten umherwabern, werden ihren Weg jedoch nie in die Jahresrückblicke finden. Sie befinden sich vielmehr, wie der gesamte Monat Dezember, in einer Position der strukturellen Diskriminierung. Darin scheint bei aller Differenz die große Gemeinsamkeit der Erinnerungspraktiken zu liegen, analog wie digital: Jahr für Jahr wird das Jahr immer früher für beendet erklärt.

 

 

Disclaimer: Normalerweise benutze ich in meinen Texten gendergerechte Sprache. Da in diesem Essay allerdings sehr häufig und stellenweise auch mit doppelten Pronomen gegendert werden müsste, habe ich für eine bessere Lesbarkeit des Textes dieses Mal hierauf verzichtet.

  1. Das gilt insbesondere für Facebook, Twitter, Instagram und Snapchat. TikTok hebt sich hiervon ab und zeigt dem Nutzer auch wochen- oder monatealte Inhalte.
  2. Nassehi, Armin: Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft, München 2019, S. 289.
  3. Simanowski, Roberto: Digitale Madeleine, in: Abfall. Das alternative ABC der neuen Medien, Berlin 2017 (Fröhliche Wissenschaft 110), S. 76–82, hier S. 78f.
  4. So bringt Stiegler, Christian: Selfies und Selfie Sticks, in: New Media Culture. Mediale Phänomene der Netzkultur, hg. von Christian Stiegler, Patrick Breitenbach und Thomas Zorbach, Bielefeld 2015, S. 67–81, hier S. 71 u. 74 digitale Selbstdarstellung in Sozialen Medien pointiert auf den Begriff.
  5. Vgl. Jacobsen, Benjamin N. und Beer, David: Social Media and the Automatic Production of Memory. Classification, Ranking and the Sorting of the Past, Bristol 2021. Die beiden unterscheiden zudem grundsätzlich „archivable“ von „retrievable“ Posts, S. 33. Insofern aber jeder Post automatisch gespeichert wird, ist diese Unterscheidung wenig produktiv – jedenfalls nur unter Verwendung eines von der Speicherung divergenten Archivbegriffs.
  6. Vgl. ebd., S. 22 u. 45–49.
  7. Vgl. ebd., S. 32: „Good memories are, in this logic, shareable memories“.
  8. Vgl. Simanowski (Anm. 3), S. 80.
  9. Vgl. Jacobsen und Beer (Anm. 5), S. 34–41.
  10. Vgl. Jacobsen, Benjamin N.: Sculpting Digital Voids. The Politics of Forgetting on Facebook, in: Convergence 27 (2021), S. 357–370, der dabei von einer „Politik der Unsichtbarkeit“ spricht.
  11. Vgl. Jacobsen und Beer (Anm. 5), S. 21.
  12. Simanowski (Anm. 3), S. 79f.
  13. Genau als solchen bezeichnen Jacobsen und Beer (Anm. 5), S. 7 Facebook.
  14. Vgl. Eriksson, Maria et al.: Spotify Teardown. Inside the Black Box of Streaming, Cambridge (MA) 2019, S. 57–61, die von einem „curational turn“ sprechen und nachzeichnen, dass Spotify diesen Weg aufgrund der Konkurrenz zu anderen Musikanbietern auf dem US-Markt einschlägt.
  15. Passend dazu zeigen ebd., S. 96–99, dass sich Musik auf Spotify derart anhäuft, dass 20% hiervon noch nie (!) gehört wurde.
  16. Vgl. ebd., S. 52f.
  17. Vgl. Burgess, Richard James: The History of Music Production, Oxford 2014, S. 69–71.
  18. Weil mir für manche Jahre die Jahresrückblicke nur auf Englisch vorliegen, sind hier und im Folgenden manche Zitate entsprechend in dieser Sprache wiedergegeben.
  19. So Eriksson et al. (Anm. 14), S. 121–127, die von „self-help ethos and cheerfulness of playlist descriptions“ (S. 125) sprechen.
  20. Koschorke, Albrecht: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2012, S. 30.
  21. Erzählerische Mittel wie Pro- und Analepsen (Vor-. Und Rückblenden) beiseitegelassen.
  22. Vgl. Jacobsen, Benjamin N.: Algorithms and the Narration of Past Selves, in: Information, Communication & Society 25 (2022), S. 1082–1097, der allerdings den Erzählbegriff hier zu stark ausweitet, jegliches Ordnen schon als Erzählen versteht.
  23. Spotify: How It’s Made. Wrapped, 06.04.2020, online unter: https://www.youtube.com/watch?v=hpwv5tiQGKk&t=9s, (Abrufdatum: 15.10.2022).
  24. Auch Koschorke (Anm. 20), S. 29 verwendet für das Erzählen den Datenbegriff: „Es hebt wenige Einzelzüge als signifikant aus einer Masse von Daten heraus“. Erzählen liegt dann aber weniger in den Daten selbst, sondern in Auswahl und Arrangement.
  25. Vgl. Jacobsen, Benjamin N./Beer, David: Quantified Nostalgia. Social Media, Metrics, and Memory, in: Social Media + Society 5 (2021).
  26. Spotify (Anm. 23).
  27. Vgl. Spotify: Neue Features im persönlichen Spotify Jahresrückblick 2022, in: Spotify, 30.11.2022,
    https://spotify_presse.prowly.com/218024-neue-features-im-personlichen-spotify-jahresruckblick-2022
    (Abrufdatum: 01.12.2022)..
  28. Vgl. Spotify: Spotify startet Marketingkampagne zum Jahresrückblick „Wrapped“ 2021, in: Spotify, 03.12.2021
    https://spotify_presse.prowly.com/166972-spotify-startet-marketingkampagne-zum-jahresruckblick-wrapped-2021
    (Abrufdatum: 15.10.2022).
  29. Vgl. Jain, Pulkit: How Spotify Wrapped 2020 Marketing Campaign Boosted Mobile App Downloads And Engagement, in: moengage, 23.02.2022
    https://www.moengage.com/blog/spotify-wrapped-2020-app-downloads-engagement/
    (Abrufdatum: 15.10.2022).