Warum ‚Too Hot to Handle‘ so faszinierend ist

Die Reality-Show ‚Too Hot To Handle‘ hat im vergangenen Jahr großes Aufsehen erregt, sowohl negativer als auch positiver Art. Pünktlich zum Start der zweiten Staffel ist es Zeit, das Serienkonzept genauer unter die Lupe zu nehmen. Denn die Teilnehmenden werden in Bezug auf Sexualität, Liebe und Überwachung in außergewöhnliche Situationen versetzt. Gerade über das Liebesideal der heutigen Gesellschaft lässt sich von Lana, dem eigentlichen Star der Show, einiges lernen.

Dieser Essay ist Ergebnis einer über einjährigen Leidensgeschichte. Nicht der quälenden Geduld, die aufzubringen war, bis die neue Staffel ‚Too Hot To Handle‘ erschien, sondern der unberechtigten Stigmatisierung und Verurteilung. Ja, ich bekenne mich schuldig, ich habe ‚Too Hot To Handle‘ nicht nur gesehen. Ich habe es genossen. Von der ersten bis zur letzten Sekunde. Mit jeder Faser meines Hirns – aber eben nicht meines Körpers. Genau das wurde mir immer wieder vorgeworfen. Ich würde die Serie aus ganz niederen Motiven lieben. Meine nicht enden wollende Begeisterung sei nur eine stupide Vernarrtheit in die ein oder andere Teilnehmerin. Und insgesamt hätte man es hier mit schlechtestem Trash-TV zu tun.

Ich sehe mich genötigt, diese infamen Unterstellungen ein für alle Mal zu entkräften. Denn ‚Too Hot To Handle‘ ist kulturwissenschaftlich hot stuff. Und nicht nur mein guilty pleasure.

It’s simple as that

Alles beginnt an einem sonnenbeschienenen Frühlingstag auf der mexikanischen Halbinsel Punta Mita am Ufer des Pazifik. Während die Kamera sich über den postkartenverdächtigen Strand hinweg auf die makellose Villa zubewegt, erklingt im Hintergrund eine Melodie, die charakteristisch für die Sorte Film ist, die Netflix gerade nicht im Angebot hat. Wenige Momente später meldet sich eine weibliche Stimme in laszivem Ton zu Wort. Auf dem Bildschirm flimmern in kurzen Schnitten leichtbekleidete und gutaussehende Männer und Frauen vorbei. Ein bisschen fühlt man sich wie im falschen Film. Aber dann ein plötzlicher Bruch, die Stimme wechselt ins Süffisante und die Konfusion verflüchtigt sich. Wenig später erfahren dann auch die bisher ahnungslosen Teilnehmenden, soeben noch die wunderschöne Aussicht genießend, von der Bedingung ihres Aufenthaltes in diesem selbsttitulierten ‚Paradies‘. Was für den Corona-Single wie das Einfachste auf der Welt erscheint, wird für die Teilnehmenden in den kommenden vier Wochen zur wohl größten Herausforderung ihres bisherigen Lebens: der Verzicht auf Sex. Der Schock bei allen Beteiligten sitzt tief. Aus der vormaligen Traumvilla ist ein wohltemperiertes Kloster geworden. Eine verhaltene Erleichterung macht sich erst breit, als die Belohnung für die sexuelle Enthaltsamkeit zur Sprache kommt: 100.000 €. Das ist der sogenannte prize fund. Aus dem aber wird bei jeder unerlaubten Handlung Geld abgezogen. Darunter fallen wohlgemerkt annähernd alle Formen körperlicher Liebkosung, vom einfachen Kuss über den Oralverkehr bis hin zur klassischen Missionarsstellung. Und auch die Selbstbefriedigung gehört für vier Wochen wieder in Teufels Küche.

Sein oder Schein

Die Devise des sich notorisch klamm bei Kasse befindlichen Ottonormalverbrauchers wäre wohl nun, sich auf das eigene Zimmer zurückzuziehen und vier Wochen der Dinge zu harren. Nicht so aber die zehn jungen Singles im retreat. Denn statt luxuriösen Einzelzimmern hat Netflix nicht nur einen großen Schlafsaal zur Verfügung gestellt, sondern die sich immer noch in Schockstarre befindlichen Frauen und Männer gezielt ausgewählt. Neben den Instagram-Profilen war dabei der Sexualitätsdrang ausschlaggebendes Kriterium. Da wurde in den Casting-Interviews dann auch mal die Frage gestellt, wie oft man sich denn selbst befriedige.1 Auf den Tisch musste alles, bis auf die Information, was das denn nun eigentlich für eine Serie sei, an der man da teilnehmen werde. Auf dem Bildschirm kommen einem also „the hottest, horniest, commitment-phobic swipsters“ entgegen, so die Erzählerin im Intro.

Dass die Rahmenbedingungen derart zielgenau konstruiert werden, ist charakteristisch für das Reality-TV. Im Zentrum des Genres steht dabei der Alltag oft unbekannter Personen. Gezeigt wird aber nicht, wie jemand morgens aufsteht, sich die Zähne putzt und sein Frühstück zubereitet. Vielmehr geht es um uns Zuschauenden bekannte, aber besondere Situationen. Diese sind zumeist äußerst intim, persönlich emotional, stereotyp und dramatisch – und werden auch bewusst entsprechend inszeniert durch Musik, Schnitte und Kameraeinstellungen.2 Für ‚Too Hot To Handle‘ heißt das alles: Sex – oder eben Sexlosigkeit. Lebenserhaltende Tätigkeiten wie das Kochen oder Putzen werden nicht nur nicht gezeigt, sondern entfallen in der Luxus-WG grundsätzlich. Dafür sind ein festangestellter Koch und ein Putzteam zuständig. Der Alltag im malerischen Punta Mina ist folglich alles andere als alltäglich. Zumal alles, was die Beteiligten voneinander ablenken könnte, verboten ist. Auch Smartphones, Bücher und Computer sind mit dem sex ban unwiderruflich verschwunden. Wenn es nur sonnenbaden, Schwimmen gehen und Sport treiben gibt, so das Kalkül der Produzierenden, kommt es zwangsläufig zu sexuellen Kontakten und damit Konflikten und Problemen in der Gruppe. Die Tristesse soll den Regelbruch provozieren.

Reality-TV drehen, wo andere Urlaub machen

Genau dieses „künstlich arrangierte soziale Setting“ mit seiner „Konkurrenzsituation“ ist kennzeichnend für das Subgenre der Reality-Soap.3 Im Gegensatz zu Docu-Soaps werden die ‚Schauspielenden‘ hier nicht in ihrer realen Lebenswelt begleitet, sondern an einem ausgewählten Ort „in einer außeralltäglichen Situation, die aber so ritualisiert und routinisiert ist, daß in ihr eine spezifische Form von Alltagsleben stattfindet, eben Urlaubs- oder Klosteralltag“.4 Fast schon kanonische Beispiele hierfür sind ‚Big Brother‘ oder ‚Dschungelcamp‘. Hinzu kommen bei diesen oftmals wie ein soziologisches Feldexperiment anmutenden Reality-Soaps Game-Show-Elemente, die schwelende Konflikte weiter verstärken. In den Konflikten nehmen einzelne Personen dann – gedrängt oder selbstinszeniert – stereotype Rollen ein: Haley, übrigens die einzige Blonde im retreat, ist die Zicke, der Brite David everybody‘s darling, der Australier Harry der junge, naive Typ sowie Bryce und Matthew die Aushilfsintellektuellen. Wobei Intellektualität hier für poetische Meisterwerke verbürgt wie „I drew a clock … cause I‘m like a pretty intellectual thinker. I try to think about the future … because … it‘s coming”. Zukunftsfatalismus der anderen Sorte.

All das setzt ein großes Fragezeichen hinter den Realitätscharakter der Sendung. Sind die Ereignisse inszeniert, handeln die Figuren authentisch, gibt es ein Drehbuch? Auch wenn uns Konstruktivismus und Poststrukturalismus gezeigt haben, dass es weder ein authentisches Selbst noch die eine Wirklichkeit gibt, lässt sich doch festhalten, dass wir es hier wahrscheinlich mit geringeren Graden von Authentizität und Realität zu tun haben. Man weiß nicht, wie stark das Alltag ist oder wie viel Realität dahintersteckt, bis man selbst teilgenommen hat. Genau diese opaken Grenzüberschreitungen zwischen Fiktion und Realität, Alltag und Exotik zeichnen paradoxerweise das Reality-TV aus.5

Lana is watching you

Zu möglicherweise unauthentischem Verhalten trägt auch bei, dass die Teilnehmenden unter ständiger Beobachtung stehen – und sich dessen bewusst sind. Während im inneren der Villa an Wänden und Decken Kameras stationär installiert sind, werden die Figuren am Strand oder im Garten von diversen Kamerateams begleitet. Kommt es zu interessanten Gesprächen, heißt es für die Teilnehmenden, Ruhe zu bewahren und geduldig zu warten, bis ein Kamerateam zugegen ist, um die Situation aufzuzeichnen.6

Hinter all dem steckt zum einen die Idee, dass im Reality-TV jedes Ereignis erzählwürdig sein kann. Zum anderen findet sich hier ein Muster, dass sich in ähnlicher Art und Weise sowohl in der Sozialwissenschaft als auch in Sozialen Medien findet: Aus der komplexen Realität werden einzelne Ausschnitte extrahiert. Die Serienmacher*innen sind die Algorithmen und Wissenschaftler*innen des Reality-TV. Statt einem Modell oder einem Feed steht hier am Ende die fertig geschnittene Serie. Die Logiken sind gleich und unterscheiden sich hauptsächlich in den Kriterien, anhand derer sie auf den komplexen Gegenstand appliziert werden. Wobei sich hier Soziale Medien und Reality-TV weiter überschneiden: Denn so wie Social Media-Plattformen bewusst Komplexität erzeugen, um diese später nach eigenen Interessen zu reduzieren,7 nehmen die Produzent*innen möglichst viel Filmmaterial in möglichst vielen verschiedenen Kameraeinstellungen auf. Aus dem vier Wochen lang akribisch aufgenommenem Aufenthalt werden dann am Ende acht Folgen im Umfang von jeweils ungefähr 40 Minuten.

Wie genau die Serienmacher*innen die Szenen auswählen und aufbereiten, bleibt unbeobachtbar. Wir sehen nur ein kuratiertes Endprodukt. Und doch beobachten wir als Rezipierende nicht einfach die Mitglieder des retreats. Diese sind zwar Beobachter 1. Ordnung, nehmen also die Welt unter dem sex ban in einer bestimmten Art und Weise wahr. Aber wir als Zuschauende beobachten weniger diese Beobachtungen, sondern die Beobachtungen von Beobachtungen. Denn zwischen uns und die erzwungen Enthaltsamen tritt eine weitere Beobachterin: Lana. Was erst wie eine misslungene Design-Idee eines hippen Start-Ups für eine Kreuzung aus Bluetooth-Lautsprecher und Nachtlampe aussieht, entpuppt sich als eigentlicher Star der Serie. Die weiß bepinselte, unidirektionale Alexa unter neuem Decknamen spricht mit den Teilnehmenden, erteilt ihnen Befehle, überwacht ihr Sexualverhalten, betreut den prize fund und verrät Regelbrüche an die versammelte Hausgemeinschaft. Diese Big Sister hört und sieht alles.

Lana: Kleine Box, großer Effekt

Damit fügt sich Lana ideal ein in ein Arrangement, das, wie oben ausgeführt, möglichst authentisch erscheinen will. Technische Überwachung und künstliche Intelligenz steht nicht im Verdacht, den Faktualitätsanspruch des Reality-TV zu unterlaufen. Und auch die Erzählerin tut ihr Übriges, um diesen Eindruck nicht zu beschädigen. Sie erzählt aus dem Off, bleibt so opak wie möglich, mehr als ihre Stimme kriegen wir nie zu erfahren. Dabei erzählt sie weniger, als dass sie Ereignisse kommentiert. Sie ist der Béla Réthy des Enthaltsamkeitswettkampfes. Große Hintergrundinformationen durch sie sind auch deshalb nicht nötig, weil die Teilnehmenden selbst die Kommentarfunktion übernehmen und in Einzelsitzungen ihre Einschätzungen in die Kamera sprechen können. Auch hier wird wieder bewusst Authentizität inszeniert, indem nur die Antworten und Kommentare gezeigt werden. Erzähltheoretisch gesprochen haben wir damit eine Nullfokalisierung, die Erzählerin bzw. die Zuschauenden wissen mehr als die einzelnen Figuren. Hinzu kommt eine heterodiegetische Erzählposition. Damit ist gemeint, dass der oder die Erzähler*in außerhalb der erzählten Welt steht. Und das war theoretisch noch nie so einfach zu erklären wie für den heterotopischen Eigenkosmos ‚Too Hot To Handle‘.

In die Beobachterordnung ließen sich Erzählerin und Serienmacher*innen nun natürlich ebenso integrieren. Aber weil Lana in gewisser Weise deren verlängerter Arm ist, bleibt eines entscheidend: Wir beobachten, wie Lana die Teilnehmenden beobachtet und auf dieser Grundlage versucht, die Beobachtungen der Teilnehmenden zu lenken. Denn Lana ist nicht einfach so da. Sie verfolgt ein bestimmtes Ziel.

Don’t do me, love me

Schon zum Ende der ersten Folge, als Lana allen Beteiligten die Hiobsbotschaft des Sexverbotes überbringt, verbindet sie dies mit einem expliziten Erziehungsauftrag: „You have been specially selected as all of you are having meaningless flings over genuine relationships. The purpose of this retreat is to help you gain deeper emotional connections in your personal relationships.” Die Teilnehmenden repräsentieren also die von der Pop-Kultur verehrten beziehungsunfähigen Frauenhelden, die von Joey über Charlie bis Barney integraler Bestandteil jeder Sitcom sind. ‚Too Hot To Handle‘ geht über das klassische Gender-Klischee allerdings hinaus und weitet diesen Typus auf Frauen aus. Die Reaktionen auf Lanas Intervention sind erwartbar. Auf Davids „You have platonic friendships with women“ kann Sharron nur lachend antworten: „Dude, that’s crazy”.

What is love?

Auch wenn das Wort ‚Liebe‘ zu Beginn nicht explizit fällt, steht diese doch im Zentrum. Gerade Liebesbeziehungen werden kulturell ja als besonders bedeutsam und tiefgehend eingeschätzt. Was aber Liebe genau ist, darüber wird seit der Antike intensiv nachgedacht. Dabei gilt es zunächst einmal festzuhalten, dass über Liebe an sich gar nicht gesprochen werden kann. Das Sprechen über Gefühle ist immer ein Sprechen über die Art und Weise, wie diese kommuniziert werden. Wie genau das Gegenüber fühlt, bleibt mir stets verschlossen. „Einander kennen? Wir müssten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren“, philosophiert Danton gleich zu Beginn bei Büchner. Das Problem der Authentizität des Reality-TV kehrt auf tieferer Ebene wieder.

Liebe ist also zunächst ein soziales Konstrukt, wobei Konstruktivismus hier nicht mit Kreativität gleichzusetzen ist. Die zugrundeliegenden Gefühle der Anziehung gibt es. Gesellschaften müssen diese nur zähmen und überformen. Sie stellen dann einen semantischen Vorrat zur Verfügung, aus dem sich die Individuen bedienen können, um die Gefühle zu bilden und Liebe zu kommunizieren. Wird ein entsprechender Code verwendet, ist das ein Liebessignal – wobei man auch hier nie sicher sein kann, ob der oder die andere das auch wirklich so meint. Wie die Semantiken sich über die Zeit hinweg entwickelt haben, hat der Soziologe Niklas Luhmann in seinem Werk Liebe als Passion ausführlich nachgezeichnet. Luhmann versteht Liebe dabei auch als eine notwendige Funktion der modernen Gesellschaft, um in der ganzen Komplexität der unpersönlichen Beziehungen einen Nahbereich der Individualitätsbestätigung aufrechtzuerhalten. Nur in Liebesbeziehungen kann ich mich als ganze Person mit allen meinen Eigenschaften einbringen. Die Veränderung der Gesellschaftsstruktur hat für Luhmann also eine Veränderung der Liebesvorstellung nach sich gezogen. Im Gegenzug wurden dadurch unpersönliche Beziehungen wiederum stabilisiert.

Die Probleme sind vorprogrammiert, wenn beide Parteien ihre Individualität einbringen. Ein kleines Beispiel: „Die Ehen werden im Himmel geschlossen, im Auto gehen sie auseinander. Denn derjenige, der am Steuer sitzt, richtet sich nach der Situation und fährt, wie er meint, auf Grund seines besten Könnens; aber der, der mitfährt und ihn beobachtet, fühlt sich durch die Fahrweise behandelt, führt sie auf Eigenschaften des Fahrers zurück. Er kann nur in einer Weise handeln, nämlich kommentieren und kritisieren; und es ist wenig wahrscheinlich, daß er dabei die Zustimmung des Fahrers findet. Im Taxi hätte man (von Extremfällen abgesehen) wenig Anlaß, darüber zu kommunizieren. Bei Intimbeziehungen wird jedoch genau diese Situation zum Test auf die Frage: handelt er so, daß er meine (und nicht seine) Welt zu Grunde legt?“8 Essentiell für das Liebespaar ist deshalb, eine gemeinsam geteilte Welt zu erbauen, in der Erleben konvergiert, aber Individualität ausgebildet wird: „Das gesamte Erleben der Partner soll gemeinsames Erleben sein“, so Luhmann in Liebe. Eine Übung.9 Liebesbeziehungen sind dann verständlicherweise höchst unwahrscheinlich.

Das Entscheidende an all dem ist, dass Liebe historisch gesehen nicht das einzige wichtige Intimverhältnis war. Auch die Freundschaftsbeziehung konnte lange Intimität codieren. Sie hat den Kampf gegen die Liebe jedoch verloren, als diese sich mit der Sexualität verband. Liebe und Freundschaft unterscheiden sich also vor allem durch ihre Körperlichkeit. Das sieht neben Luhmann auch der Psychologe Robert Sternberg so. Er definiert persönliche Beziehungen über die drei Merkmale Intimität, Bindung und Leidenschaft und betont, dass gerade die Leidenschaft ‚wahre Liebe‘ von Freundschaft unterscheide.10

Vor diesem Hintergrund erscheint es dann paradox, dass ‚Too Hot To Handle‘ solche meaningfull relationships ohne Sexualität herzustellen versucht. Zumal Liebesbeziehungen heutzutage oftmals über Sexualität angebahnt werden. Aber die Serienmacher*innen sehen sich dazu genötigt, weil, nicht ganz unberechtigt, andernfalls kaum zu erwarten ist, dass die Teilnehmenden, um Sternbergs Typologie wieder aufzugreifen, Intimität aufbauen, also über Persönliches intensiv kommunizieren. Schließlich sind die Münder dann mit Küssen beschäftigt. Das fügt sich in die Reihe anderer Reality-Shows auf Netflix wie ‚The Circle‘ und ‚Love Is Blind‘ ein, die ebenso versuchen, Intimbeziehungen ohne Körperlichkeit herzustellen. Freundschaften sind bei alldem nur ein Nebenprodukt und dienen dazu, über Liebesprobleme zu sprechen. Und gerade hier ist ‚Too Hot To Handle’ äußerst heteronormativ: Liebe wird nur als Verbindung von Frauen und Männern verstanden; alle Teilnehmenden sind heterosexuell, sodass sich Freundschaftsbeziehungen hauptsächlich innerhalb gleichgeschlechtlicher Gruppen ausbilden. Für diese Dynamiken, so wohl das Kalkül der Serienmacher*innen, wäre Homosexualität ein Störfaktor.

Let’s talk about sex

Aus all dem entstehen erhebliche Annäherungsprobleme. Gerade der Wechsel von unpersönlichen in persönliche Beziehungen muss ja kommunikativ so angebahnt werden, dass ein Gesichtsverlust ausbleibt. Ist Körperlichkeit verboten, muss sexuelles Interesse jedoch umso offensiver sprachlich kommuniziert werden, denn gerade Sinnlichkeit signalisiert „auch in öffentlichen Situationen zwangsläufig eine gewisse Exklusivität der Kontaktbereitschaft“.11 Exakt diese Dynamik zeigt sich während des Dates von Francesca und Kelz. Der Indikativ des Tuns kann durch den Konjunktiv der Kommunikation nur unzureichend ersetzt werden. Wird dieser Konjunktiv nicht ein bisschen wirklichkeitswirksamer, ist Scheitern vorprogrammiert. Francesca macht einen Schritt, stellt sich aus, findet dafür aber keine Anerkennung. Ihre enttäuschten Reaktionen – „He embarassed me“, „I wasn’t told what I needed to hear“ – sind auch gerade dadurch zu erklären, dass sie sich hauptsächlich über ihren Körper definiert. Fehlende Kommunikation sexuellen Interesses wird dann mit fehlendem persönlichen Interesse gleichgesetzt. Also das genaue Gegenteil dessen, was Lana mit dem sex ban zu erreichen versucht. Sprachlich greifen die Liebesparteien bei scheiternden Annäherungen ansonsten oftmals auf altbekannte Liebescodes zurück. Sie ist unerklärlich, inkommunikabel, passioniert: „something is missing“, im Kuss seien „no spark“, „no chemistry“, „no fireworks“ gewesen.

Gerade durch das Verbot von Körperlichkeit wird diese bedeutungstragender. Der Regelübertritt des Kusses signalisiert dem Gegenüber nun umso mehr seine herausragende Stellung. Fehlende Bereitschaft zum Regelbruch wird als Zurückweisung empfunden. Gesellschaft und Liebe stehen dann wie so oft in einem konkurrierenden Verhältnis. Gemeinsam Pferde zu stehlen ist für die Intimbeziehung unerlässlich, aber für die Gesellschaft schädlich. Ein Motiv, dass sich durch die gesamte Literaturgeschichte zieht und grundsätzliche moralische Probleme aufwirft. Zumal sich die Teilnehmenden im retreat in einem klassischen Gefangenendilemma befinden, in dem einseitige Abweichung, d.h. in diesem Fall Sex, attraktiv ist – eben solange es nicht alle tun. Der Sozialexperimentcharakter der Reality-TV-Show liegt hier also nicht nur in der Frage, wie Liebesbeziehungen aufgebaut werden können, sondern auch, wie sich Gemeinschaften und Normen ausbilden. Hilfreich hierfür ist wie so oft eine Sanktionsinstanz. Die heißt nur eben nicht mehr Leviathan, sondern Lana.

Weil es aber irgendwie auch ein Happy End braucht, wird die Zurückweisung Francescas durch Kelz in einem übergeordneten, klassischen Liebesschema aufgelöst: Die Geliebte muss erst jemand anderem nahekommen, damit ich meine Gefühle für sie entdecke. Und so finden Harry und Francesca, die sich gleich zu Beginn der Serie ordentlich verkracht haben, doch noch zusammen.

Lanas Schoßhündchen

Ganz so sadistisch, den Paaren, die schrittweise eine tiefergehende Beziehung aufbauen, jede Körperlichkeit zu verwehren, ist Lana aber nun auch wieder nicht. Neben dem Regelbruch etabliert sie in der Mitte der Staffel auch eine legale Option auf körperliche Nähe. Die Teilnehmenden erhalten hierzu Armbänder, die grün aufleuchten, wenn Lana ein ausreichendes Ausmaß an personal growth feststellt. Ist das der Fall, verschwinden alle Hemmungen und Küssen ist kurzzeitig erlaubt. Das hat sich Lana natürlich sehr gut bei Iwan Pawlow abgeschaut und ist Konditionierung in Reinform. Die Liebenden werden zu Lanas Schoßhündchen. Aber irgendeinen Knochen muss man den Turteltäubchen ja hinwerfen.

Ihre Wingman-Fähigkeiten stellt Lana auch unter Beweis, wenn sie zwei Personen auf ein Date einlädt oder einem Liebespaar eine Nacht in Abgeschiedenheit und Zweisamkeit gewährt. Wohlgemerkt ist Sex auch in dieser privaten Suite verboten, die in klassisch religiöser Rhetorik zum ultimativen test of chastity stilisiert wird. Irgendwie hat doch alles einen leichten Tatsch von weltlichem Klosterleben.

Im wahrsten Sinne des Wortes geerdet: die Männer im Workshop

Vom Frauenheld zum Mobbingopfer

Hin und wieder müssen die erzwungen Zölibatären einen spirituell angehauchten Workshop absolvieren, der helfen soll, bedeutungsvollere Beziehungen einzugehen. Der Problemfokus liegt hierbei nicht auf der eigenen Unfähigkeit zu lieben, sondern einem mangelhaften Selbstverhältnis. Es geht nicht darum, das Lieben zu lernen, wie es Erich Form oder Jean-Luc Marion gefordert und damit stets auch impliziert haben, sich hinzugeben und bedingungslos zu lieben.12 Vielmehr soll sich das Selbstbild der Teilnehmenden wandeln, sie sollen sich selbst als die akzeptieren, die sie sind, sodass Sharron am Ende der Serie nicht mehr wie zu Beginn sagen muss: „What I’m most proud of is my penis“. Selbstliebe ist natürlich wichtig, auch für Fromm und Marion. Aber sie folgt in ‚Too Hot To Handle‘ doch einer Liebesidee der Selbstoptimierung, bei der es darum geht, ein möglichst liebenswertes Objekt zu werden.

Schritt für Schritt kommen in den Workshops die Schattenseiten der Männer und Frauen zur Sprache. Sie schildern Verletzungen, Unsicherheiten und Ängste. Aus beneidenswerten Idolen werden soziale Außenseiter, Mobbingopfer und strukturell Benachteiligte. Jede und jeder Einzelne im retreat wird zunehmend pathologisiert. Über die Leute lachen kann man spätestens ab diesem Punkt nicht mehr so wirklich, obwohl das Lachen zuvor auch immer eine Art Kompensationsmechanismus dafür war, dass man sich im Bett sitzend mit den letzten Atemzügen des nur noch schwach glimmenden Feuers im feinstaubschleudernden Holzofen arrangieren musste, anstatt die über den Horizont flimmernden roten Sonnenstrahlen beim abendlichen Strandspaziergang betrachten zu können, und dabei zu wissen, dass dieser Spaziergang in viel zu kurzer Badehose wohl niemanden hinter dem Ofen hervorgeholt hätte.

Durch die Hintertür etabliert Lana mit all dem die klassische Vorstellung Romantischer Liebe und das Primat langfristiger Beziehungen. Lana ist die technische Verkörperung der impliziten gesellschaftlichen Normen im Bereich Liebe, Sexualität und Intimität. Das sexualitätsgeladene Single-Dasein schrumpft zur traurigen Einzelgänger*innen-Existenz. Zu Beginn noch vergöttert, sind alle zum Schluss geerdet. Was zuvor noch als erstrebenswert erschien, ist nun bemitleidenswert. Wer in diesem Prozess des ‚Persönlichkeitswachstums‘ nicht mitthalten kann oder die Normen ablehnt, wird aussortiert und ersetzt.

‚Too Hot To Handle‘ konterkariert und betont moderne Liebesvorstellungen damit gleichermaßen. Sie etabliert die Romantische Liebe als Ideal und entzieht ihr sogleich die Nahrungsgrundlage.13 Zudem verhandelt die Reality-Soap Liebesbeziehungen im körperlosen Digitalisierungszeitalter. Hier neue, digitale Formen des Liebens, mindestens des Kennenlernens zu finden, ist ja gerade im Zuge der Corona-Pandemie hochaktuell.14 Und die Parallelen zwischen den Netflix-Singles und den Serien-Streamer*innen zuhause setzen sich weiter fort. Das physical distancing, der Experimentcharakter, das Ins-Haus-Eingesperrt-Sein waren Kollektiverfahrungen des Lockdowns. Und im Home-Office wäre man in der ein oder anderen Situation liebend gerne ins von digitalen Kommunikationsmedien befreite retreat eingezogen. Vielleicht erklären gerade diese Überschneidungen mit der Corona-Pandemie den Erfolg der im April letzten Jahres erschienen Serie. Ob sich dieser für die zweite Staffel fortschreiben wird – auch ohne Lockdown und Quarantäne?

  1. Netflix UK & Ireland: Too Hot To Handle Revealed – The Secrets of How They Film The Show, online unter https://www.youtube.com/watch?v=z023yB9_oaE (Abrufdatum: 31.05.2021).
  2. Vgl. Elisabeth Klaus und Stephanie Lücke: Reality TV – Definition und Merkmale einer erfolgreichen Genrefamilie am Beispiel von Reality Soap und Docu Soap, in: Medien & Kommunikationswissenschaft 51/2 (2003), S. 195–212, hier S. 208–210.
  3. Ebd., S. 201.
  4. Lothar Mikos: Die spielerische Inszenierung von Alltag und Identität in Reality-Formaten, in: Das Private in der öffentlichen Kommunikation. ‚Big Brother‘ und die Folgen, hg. von Martin K.W. Schweer, Christian Schicha und Jörg-Uwe Nieland, Köln 2002 (Fiktion und Fiktionalisierung 5), S. 30–50, hier S. 34.
  5. Vgl. Klaus & Lücke (Anm. 2), S. 204–208.
  6. Vgl. Netflix (Anm. 1).
  7. Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, 13. Aufl., Frankfurt a. M. 2015 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1124), S. 42.
  8. Niklas Luhmann: Liebe. Eine Übung, in: Was ist Liebe? Philosophische Texte von der Antike bis zur Gegenwart, hg. von Martin Hähnel, Annika Schlitte und René Torkler, Stuttgart 2015 (Reclams Universal-Bibliothek 19347), S. 231–244, hier S. 234.
  9. Vgl. Robert J. Sternberg: A Triangular Theory of Love, in: Psychological Review 93/2 (1986), S. 119–135.
  10. Luhmann (Anm. 7), S. 206.
  11. Vgl. Erich Fromm: Die Kunst des Liebens, übersetzt von Liselotte Mickel und Ernst Mickel, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1980 (Ullstein-Buch 35258) und Jean-Luc Marion: Das Erotische. Ein Phänomen, in: Was ist Liebe? Philosophische Texte von der Antike bis zur Gegenwart, hg. von Martin Hähnel, Annika Schlitte und René Torkler, Stuttgart 2015 (Reclams Universal-Bibliothek 19347), S. 138–148.
  12. Luhmann (Anm. 7), S. 201 betont, dass ‚romantisch‘ heute oft nur noch ‚Sex mit affektiver Bindung, also Gefühlen‘ bedeutet.
  13. Dazu, wenn auch etwas zu undifferenziert Fan Yang: Learning From Lana. Netflix’s Too Hot to Handle, COVID-19, and the Human-Nonhuman Entanglement in Contemporary Technoculture, in: Cultural Studies.